Beitrag für die Zeitschrift ZNAK - Einige Gedanken zur Staatenbildung und zu Europa


Seit dem Fall der Mauer ist ‚state-building‘ zu einer der Moden der Außenpolitik geworden. Mit dem Zerfall der Sowjetunion, auf ihre Art auch ein post-modernes Empire in Verlängerung des russischen Zarenreiches, fing alles an. Die französische Russland-Spezialistin, Hélène Carrière d’Encausse, hatte dies bereits Anfang der 80er Jahre in ihrem bemerkenswerten Buch ‚L’écat de l’empire‘ vorausgesehen, und war dafür etwas milde belächelt worden. Und dann passierte nach 1989 doch genau das, was sie vorausgesehen hatte: eine um die andere Republik spaltete sich von der ehemaligen Sowjetunion ab und erklärte sich unabhängig. Eine Reihe von ‚Staaten‘ erschien auf der politischen Landkarte, die niemand zuvor in ihrem Anspruch auf Staatlichkeit bemerkt hätte: u.a. Usbekistan, Kasachstan, Tadschikistan. Die GUS-Staaten wurden gegründet. Andere hatten die gleichen Ansprüche – am prominentesten Tschetschenien – aber hier wurden diese nicht zugelassen. Seit mehr als zehn Jahren gibt es dort einen blutigen und von der Welt inzwischen vergessenen und verdrängten Unabhängigkeitskampf. Nicht abgeschlossen sind ferner die Unabhängigkeitsbestrebungen einiger kleiner, abspaltungs-entschlossenen Mini-Republiken oder Ethnien in und um Georgien und Aserbaidschan herum, z.B. Südossetien oder Nagorny-Karabach, um nur einige zu nennen, eben in jenem Teil der Landkarte, der heute als ‚frozen conflict-zone‘ bezeichnet wird. Jeder Ethnie ihren Staat, scheint die Devise zu sein, um Staatlichkeit als neugewonnenes Selbstwertgefühl oder um via ‚Nationalismus‘ sein Existenzrecht einzuklagen.

Das ist verständlich, denn oft oder fast immer handelt es sich um eine von einem Zentralstaat unterdrückte Region, bahnt sich jetzt die oft jahrhundertelange Unterdrückung oder Vernachlässigung von Minderheitenrechten ihren Weg in die regionale Unabhängigkeit bzw. neue Staatlichkeit. Imperien als Auslaufmodell – das aber gerade in einer Zeit der rasanten Globalisierung, in der grade kleine Staaten immer weniger Gestaltungsspielräume haben, immer weniger in der Lage sind, ihre eigenen Interessen zu verteidigen, und die Bewegung in der internationalen Staatenwelt immer mehr auf eine neue Multipolarität zusteuert, in der regionale Blöcke sich gegenüberstehen und ihre Interessen ausbalancieren bzw. multilateral verhandeln: die USA und die EU, ASEAN und die Afrikanische Union, in der also, kurz gesagt, nur zählt wer groß ist und Einfluss hat. Ob ein ‚kleiner Staat‘ neu entstehen darf oder nicht, hängt dabei im Wesentlichen von der Protektion einer oder mehrere der großen Mächte in der internationalen Staatenwelt ab, und davon, ob diese bereit sind, dies durchzufechten und Schutz zu gewähren: Kosovo und Palästina ja, Tschetschenien und Tibet nein, so könnte man, gerade angesichts der jüngsten Ereignisse in China fast polemisch formulieren. Wie sind diese zwei im Grunde gegenläufigen Tendenzen zu verstehen und zu erklären?
Die neue Tendenz von etwas, das man etwas überspitzt formuliert eine Tendenz der ‚ethnischen Segregation‘ nennen könnte, beschränkt sich nicht nur auf die ehemalige Sowjetunion, bzw. auf ein Phänomen, das jetzt, ausgelöst durch Tibet, sich vielleicht auch wie ein Lauffeuer auf China erstrecken könnte. Genau deshalb hat die chinesische Regierung solche Angst vor den Unruhen in Tibet, weil sie vielleicht der Auslöser für weitere Unabhängigkeitsbestrebungen im Reich der Mitte sein könnten.

Auch Europa war und ist noch von dem Staatenbildungsfieber erfasst. Anfang der 90er Jahre wurde aus der Tschechoslowakei die Republik Tschechien und die Slowakei,; im gleichen Atemzug zerfiel Jugoslawien in immer mehr - mehr oder weniger ethnische – Teilrepubliken. Das jüngste Beispiel ist Kosovo, das vor einigen Wochen auf Wunsch und Druck, aber auch im Schutz der internationalen Staatenwelt unabhängig gesprochen wurde. Es war dies die beste unter vielen schlechten Lösungen in einer absolut verfahrenen Situation, in der ein Rückrudern nicht mehr möglich gewesen wäre. Und trotzdem ist die Lösung problematisch, wie sich mit jedem Tag mehr zeigt. Ob wirklich Frieden in den Kosovo einzieht, ob das kleine, neue Staatengebilde sich wirklich als lebensfähig erweist, dies alles wird sich noch zeigen müssen. Und wenn dies tatsächlich und hoffentlich so gut enden sollte, dann nur unter dem Dach der EU und unter der Voraussetzung, dass die anderen Staaten des westlichen Balkans ebenfalls bald eine klare Beitrittsperspektive erhalten bzw. sich diese nun zügig präzisiert. Die jüngsten Entwicklungen in Serbien nach den Wahlen sind ja glücklicherweise vielversprechend.

Ziel dieses kleinen Essays ist es nicht, die Kosovo-Politik in allen Details zu kommentieren, oder darüber zu spekulieren, ob jetzt auch noch im Rahmen einer Kettenreaktion vielleicht die Republika Srpska ausgerufen wird. Sondern es geht darum, etwas darüber nachzudenken, wie sich diese Entwicklung der Bildung von immer mehr und kleineren Staaten – meist entlang ethnischer Grenzen - auf Europa, bzw. die EU auswirkt, bzw. in welchem Verhältnis sie zum europäischen Projekt steht. Die Antwort ist: in einem zutiefst gegensätzlichen! Die EU ist in ihrem gedanklichen Ursprung ein supranationales Projekt, gleichsam ideell die Antipode zum Nationalstaat. In der institutionellen Dynamik ging und geht es in der EU um das Zusammenlegen von Souveränität – z.B. beim Euro und in der Art, wie die EZB institutionell aufgestellt ist, nämlich durch Mehrheitsentscheidungen und einem EZB-Rat, in dem das Prinzip der ‚nationalen Repräsentation‘ klar durchbrochen wurde – zum Nutzen aller, weil der Einfluss von mehreren Staaten, wenn sie mit einer Stimme sprechen, eben größer ist. Oder, um beim Euro zu bleiben: weil eine große und starke Währung weniger anfällig ist als viele kleine. Gerade der Euro führt uns den Erfolg dieses Prinzips derzeit sichtbar vor.

Wie ist also diese supranationale Idee, deren Kernelemente gerade Mehrheitsentscheidungen sowie das Durchbrechen des Prinzips der ‚nationalen Repräsentation‘ sind (das übrigens ab 2014 auch für die Europäische Kommission gelten wird, wenn nicht mehr jedes Land einen Kommissar stellen wird), mit dem Aufkeimen immer neuer nationaler Einheiten zu vereinbaren, die genau die nationale Komponente forcieren? Das augenfällige Problem besteht doch gerade darin, dass die neuen Staaten, kaum als ‚Nation‘ konstituiert, im institutionellen System der EU gleichsam übervorteilt werden: sie bekommen Stimmen im Rat, (noch) einen Kommissar und Sitze im EP. Überspritzt formuliert könnte man sagen: das institutionelle System der EU gibt Anreiz zur Staatenbildung entlang (vermeintlich) nationaler Grenzen!

Die Leidtragenden – oder zumindest die, die sich als Verlierer fühlen – sind große regionale Einheiten in großen Mitgliedstaaten, die im institutionellen System der EU nicht direkt vertreten sind und sich mühsam über ihre ‚Zentralregierung‘ Gehör und Stimme in der EU verschaffen müssen: z.B. Bayern in Deutschland, Schottland in Großbritannien oder Katalonien in Spanien. Bayern wie Schottland sind größer als Zypern, Malta oder Kosovo, und haben ein größeres Budget und BIP, sind aber am Brüsseler Tisch nicht vertreten. Und der Unmut darüber wird immer lauter. Und nicht nur das: vor wenigen Wochen wurde ernsthaft über die Spaltung Belgiens in Wallonien und Flandern diskutiert, die gerade mal wieder für einige Zeit vermieden oder zumindest hinausgezögert werden konnte. Wahrscheinlich aber wäre eine Spaltung zwar mit etwas Kopfschütteln, aber letztlich doch einer gewissen Selbstverständlichkeit hingenommen worden. Es ist schon erstaunlich, wenn z.B. der Britische Europaminister, Jim Murphy, keine Probleme hat, die Legitimität von zwei potentiellen belgischen Außenministern zu akzeptieren, weil es dann ja auch zwei ‚Staaten‘ gäbe, während ein europäischer Außenminister nicht sein darf, weil die EU kein Staat ist. Es ist fraglich, ob wir die EU mit dieser Logik in einer globalisierten Welt großer Machtblöcke zum Erfolg führen! Vielleicht ist es an der Zeit, unseren Begriff von ‚Nation‘ zu hinterfragen.

Sind wir also auf dem besten Wege, das schöne, supranationale Friedensprojekt der EU – dessen Urmotiv es war, das Krebsgeschwür des europäischen Kontinentes, nämlich den kriegstreibenden Nationalismus, zu überwinden - auf’s Spiel zu setzen? Natürlich geht es heute nicht mehr um Krieg oder Frieden auf dem europäischen Kontinent; es geht aber darum, wie weit der aufkeimende Regionalismus und seine Flucht in Unabhängigkeit und Staatlichkeit das derzeitige institutionelle System der EU gefährdet. Die Balance der EU zwischen großen und kleinen Staaten ist in den letzten Jahren merklich zugunsten der kleineren Staaten gekippt. Dies hat nicht nur die Autonomiebestrebungen von einzelnen Regionen in den großen Mitgliedsstaaten in letzter Zeit deutlich befördert; es hat vor allem auch die Europapolitk der großen Staaten insgesamt viel ‚nationaler‘ gemacht: es ist nicht schwer nachzuweisen, dass die Europapolitik von Frankreich und Großbritannien, insbesondere aber von Deutschland, in den letzten Jahren ‚nationaler‘ und weniger ‚integrationistisch‘ geworden ist. Und Polen, auch ein großes EU-Land, war ja leider, mit Blick auf europäische Integrationsbemühungen, in den letzten Jahren eher ein Totalausfall, wenn man dies so scharf formulieren darf, auch, wenn es jetzt glücklicherweise besser wird. Auf den Punkt gebracht ist damit die Flucht in den Nationalismus ein doppelter: die kleinen Regionen bzw. Ethnien flüchten in Unabhängigkeit und Staatlichkeit, um durch ihre Konstituierung als ‚Nation‘ zu gewinnen; die großen Staaten flüchten in eine immer nationalere Handhabung ihrer Europapolitik, und scheren sich immer weniger darum, was die Kleinen denken und wollen: ‚EU Big Three‘ oder Sarkozy’s Konzept von EU-6 sind die Konsequenzen. Und alle Europäer werden sich überlegen müssen, ob man das will und ob dies eine gute Entwicklung ist!

Wenn wir darüber ernsthaft nachdenken wollen, müssen folgende Fragen erlaubt sein: könnte es sein, dass unser Konzept des ‚Nationalstaates‘ überholt ist? Dass Ernest Renan, der berühmte französische Historiker des letzten Jahrhunderts, Recht hat mit dem Satz: ‚Eine Nation ist, wer einen gemeinsamen Blick auf die Zukunft hat‘? Ist das für die Europäer nicht der Fall?
Es ist nichts gegen Staatenbildung zu sagen. Kleinere Staaten oder nach Unabhängigkeit strebende Regionen aber sollten sich vor Augen führen, dass sie dass nur können, weil die EU ihnen ein Dach gibt. Die EU ist Schutzmacht, gleichsam das Lebenselixier von kleineren Staaten, die weltweit überhaupt nur noch über und durch die EU Einfluss haben. Der Preis, der dafür zu bezahlten ist, ist ein institutioneller: man könnte sagen: meinetwegen jedem seine ‚Staat‘; aber nicht jedem seinen Kommissar, seine Abgeordneten oder Stimmen im Rat. Der Vertrag von Lissabon ist noch nicht in Kraft, da darf man ahnen, dass wir die große institutionelle Reform der EU noch vor uns haben, wenn wir es ernst mit dem europäischen Projekt meinen, und zwar jene, die die supranationale Idee der Union wieder zum Leuchten bringt. In der die qualifizierten Mehrheitsentscheidungen auch in Kernbereichen der EU, z.B. der Außenpolitk, ausgedehnt werden und das Prinzip der ‚nationalen Repräsentanz‘ in den Institutionen (nicht nur in der Kommission, sondern auch z.B. beim Europäischen Gerichtshof etc.) durchbrochen wird, wenn die EU nicht an dem Ungleichgewicht zwischen großen und kleinen Staaten zerbrechen soll. In der, warum soll man es nicht denken dürfen, ein Europaparlamentarier je 1 Million EU-Bürger vertritt, die Grenzen der Wahlkreise ‚übernational‘ verlaufen, und dadurch das Prinzip des Politischen über das Prinzip des Nationalen gestellt wird.

Der EU ein neues, auch institutionell reflektiertes Gleichgewicht zwischen den drei Ebenen – Europa, Nation, Region – zu geben, dies ist die mächtige Zukunftsaufgabe der EU. Und man mag gerne anfangen, laut und offen darüber nachzudenken, ob nicht die ‚Nation‘ dabei heute eigentlich schon das schwächste Glied ist; ob nicht vieles, z.B. Außenpolitik, dringend verstärkt auf der europäischen Ebene gemacht werden müsste, während anderes, z.B. Strukturpolitik, besser regional gemanagt werden könnte.
Die große These könnte lauten, dass Europa, über die grob letzten 400 Jahre gesehen, die Dekomposition von Imperien war (Römisches Reich deutscher Nation, Habsburg, franz. Königreich), die in einem Prozess von mehreren hundert Jahren in immer mehr ‚Nationen‘ zerteilt (bzw. mit Blick auf das deutsche Reich: zusammengeführt!) wurden; und das aus dieser Dekomposition jetzt eine europäische Re-Komposition wird: die Zusammenführung von Staaten in eine europäische Macht, in der - und das ist der entscheidende Unterschied zu früher – Minderheitenrechte (bis hin zur Unabhängigkeit!) eine große Rolle spielen und garantiert sind. Insofern lebe das Kosovo! Aber darüber darf nicht vergessen werden, dass das der Schritt zur nationalen Eigenständigkeit nur die Vorstufe zum Supranationalismus sein darf. Europa muss anfangen, sich ein institutionelles System auszudenken, dass das bestehende Spannungsverhältnis zwischen Europa, Nation und Region auflöst und daraus einen schönen Dreiklang macht, in dem die Grenzen immer mehr verwischen, und nicht neue Grenzen entlang vermeintlich ‚ethnischer‘ Staatlichkeit gezogen werden.


Ulrike Guérot