Europäische Identität im Europa der Kulturen

Kulturpolitische Tagung der Evangelischen Akademie Loccum,

‚Die Europäische Union zwischen Identität und Interesse’


Sehr geehrte Damen und Herren,

zunächst einmal ganz herzlichen Dank, dass ich auf diesem kulturpolitischen Forum der Evangelischen Akademie Loccum vortragen darf. Dies ist für mich eine große Ehre!

Die Kulturpolitik, zumal die europäische, ist nicht meine eigentliche Domäne, insofern möchte ich zugleich zu Beginn sagen, dass ich einen politikwissenschaftlichen Ansatz für meinen Vortrag gewählt habe, und mir der Begriff des Interesses – und damit auch der der Macht – näher steht, als der Begriff der Identität. Die europäische Identität - viel ist über sie geschrieben worden - ist in der Tat ein sehr schwer fassbares Gebilde, ganz egal, ob man sich diesem Begriff, kulturpolitisch, verfassungs- oder völkerrechtlich oder auch historisch nähert.

Damit möchte ich zu Beginn meiner Ausführungen mit dem Begriff des europäischen Interesses, genauer: den Interessen der Europäischen Union (denn das ist nicht dasselbe!) beginnen. Darauf hinweisen möchte ich auch, dass meine Ausführungen nicht unbedingt die Meinung des German Marshall Fund of the United States vertreten. Der GMF versteht sich als überparteilicher Think Tank und Diskussionsplattform, in dem es keine standardisierten Meinungen gibt.


I. Interesse

1. Das Interesse der EU

Machtpolitisch betrachtet sind – oder wären – die Interessen der EU recht leicht zu definieren. Die EU bedürfte der Verabschiedung der Europäischen Verfassung (bzw. genauer: des Europäischen Verfassungsvertrages), der nicht nur als Entwurf auf dem Tisch liegt, sondern von den Staats- und Regierungschefs bereits verabschiedet wurde, um ihre Handlungsfähigkeit und institutionelle Effizienz zu steigern.

Die Sicherung – oder überhaupt das Erreichen – institutioneller Effizienz ist zur Sicherung europäischer Interessen unabdinglich. Diese wiederum sind leicht zu definieren: Die EU als Ganzes hat ein Interesse, z.B. den Binnenmarkt zu erhalten, eine gemeinsame Strategie für Migration und Flüchtlingsströme zu entwickeln, ihre Energiesicherheit- und Versorgung sicher zu stellen, eine konstruktive Strategie zu entwickeln, um den Folgen der Globalisierung offensiv zu begegnen, um die Prinzipien von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, ‚good governance’ sowie den Wertekanon der Europäischen Grundrechtscharta in den internationalen Institutionen und auf der internationalen Bühne auszudehnen, zu erweitern und zu verteidigen; um das europäische Sozialmodell international ebenso anzupassen, wie zu modernisieren. Dies alles sind Aufgaben, von denen die meisten Menschen heute spontan sagen würden, dass sie national nicht mehr zu lösen sind, und einer schlagfertigen europäischen Handlungsebene bedürfen. Der Nationalstaat ist dafür als strategischer Handlungsrahmen und für effiziente Lösungen zu eng geworden.


2. Die institutionellen Möglichkeiten der EU

Viele institutionelle Verbesserungen, die die EU für eine Effizienzsteigerung und erhöhte Handlungsfähigkeit bräuchte, sind in der Tat im Vertrag über eine Europäische Verfassung enthalten. Um hier nur stichwortartig ein paar Punkte zu nennen: die Abschaffung der Rotation der Ratspräsidentschaft, die Einsetzung eines gewählten Ratspräsidenten, die Einführung des Amtes eines Europäischen Außenministers, die Verbesserung der Mitwirkung der nationalen Parlamente, die Möglichkeit von strukturierter Zusammenarbeit im Bereich der ESVP, dies alles wären wichtige Schritte, um den institutionellen Integrationsprozess weiter voran zu treiben.
Aber diejenigen, die den Verfassungskonvent beobachtet haben, wissen auch, dass es ambitioniertere Vorlagen gegeben hat, die sich nicht durchgesetzt haben, die aber ebenfalls wichtige Schritte auf dem weiteren Weg der Integration wären: die Vereinheitlichung der europäischen Parteienstrukturen bis hin zu harmonisierten Wahlverfahren für das Europäische Parlament, z.B.; oder die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament, anstatt der Designation durch den Europäischen Rat, die Ausdehnung von Mehrheitsentscheidungen; die immer noch ausstehende Entscheidung darüber, wie die Zahl der Kommissare verkleinert werden kann, um die Kommission als Kollegium wieder straffer und effizienter zu machen und dabei das Prinzip der ‚nationalen Repräsenation’ in der Kommission zu durchbrechen etc.

Und noch einen Schritt weiter gedacht, könnte man durchaus skizzieren, wie sich die EU institutionell noch besser und noch geschlossener aufstellen könnte, um gerade international besser als Akteur wahrgenommen zu werden, und um durch das Zusammenlegen von ‚Souveränität’, so wie man es letztendlich beim Euro gemacht hat, die internationale Einflussnahme zu erhöhen. Dazu würden dann gewichtige Schritte gehören, wie etwa die Vertretung der EU durch die ‚Eurogruppe’ im G-8, ein EU-Sitz im IWF, ein europäischer Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen oder auch die konsequente Verfolgung des Ziels einer ‚europäischen Armee’ (inklusive weit ausgebauter Zusammenarbeit im Bereich der militärischen Fähigkeiten), sowie dies ansatzweise auch schon in den so genannten ‚Headline Goals’ der EU bereits skizziert ist.

Dies sollte man auch nicht unbedingt nur als Gewinn von Handlungsmacht verstehen, sondern vielleicht, noch viel banaler, als Sicherung des derzeitigen europäischen Platzes in der Welt. Hochrechnungen zufolge wird im Jahre 2050 Europa zusammen mit den USA, also der ‚Westen’, nur noch ca. 7% der Weltbevölkerung ausmachen, wovon 4,7% auf die EU entfallen. Ich halte es daher für vermessen anzunehmen, dass 7% der Weltbevölkerung allein über die Geschicke und die Entwicklung der internationalen Beziehungen im 21. Jahrhundert weltweit bestimmen werden. Multi-Polarität – obgleich ein unschönes Wort – ist längst eine Realität in den internationalen Beziehungen, und auch vor diesem Hintergrund sollte sich die EU entsprechend als internationaler Akteur aufstellen. Die Transzendenz des Nationalstaates als wirkungsmächtigem Entscheidungsrahmen und Akteur für Politik ist im 21. Jahrhundert vorgezeichnet.

Man mag dies als Utopie abtun und sicherlich sind dies Schritte, die die EU nicht morgen, nicht übermorgen, und vielleicht sogar nie tun wird. Aber man wird festhalten dürfen, dass es argumentativ darstellbar ist, dass diese Schritte im europäischen Interesse sein könnten. Denn es ginge dabei weder um Altruismus, noch um ‚Souveränitätsverlust’, sowie in der derzeitigen Diskussion über Europa oft mitschwingt, sondern gerade um ‚Souveränitätsgewinn’ (im Sinne von Zugewinn von Handlungsfähigkeit), sowie um ‚Interessensicherung’.


3. Europäische Interessen und EU-Erweiterung

Die derzeitige Diskussion über die Erweiterung der Europäischen Union ist dafür beispielhaft: sie wird, wenn ich es einmal grob fassen darf, stets mit dem Unterton der ‚Belastung’ für die EU geführt, oder aber mit dem der europäischen Großzügigkeit, soll heißen, die EU bringt diesen Ländern Stabilität und Prosperität. In Kürze, es scheint immer, als würde die EU nur etwas geben – und sei gerade momentan dadurch überfordert. Meine These ist, dass die Parameter dieser Diskussion umgedreht werden müssten. Europa braucht nicht eine Diskussion über die Kosten der Erweiterung, sondern über die Kosten der ‚Nicht-Erweiterung’. Diese Kosten sind politischer, ökonomischer, kultureller und geo-strategischer Natur.

Nun muss ‚Erweiterung’ nicht unbedingt Vollmitgliedschaft bedeuten, und schon gar keine schnelle. Aber negiert werden kann nicht, dass sich Europa um seine Anrainerstaaten kümmern muss - mehr als heute - und zwar im eigenen Interesse. Politisch hat die EU, dies wurde durch die letzte Erweiterungsrunde bewiesen, ‚transformative Kraft’. Allein die Perspektive, sich der EU anzunähern, motiviert viele der angrenzenden Ländern, weitreichende politische wie ökonomische Reformen in Angriff zu nehmen, hin zu Demokratie und Marktwirtschaft, die zentral in europäischem Interesse und nicht nur der Länder selbst sind. Ökonomisch sind die Wachstumspotentiale ebenfalls dort. Die Türkei z.B. hat prognostizierte Wachstumsraten von 6-10% für die nächsten 10 Jahre. Dies sind Werte, von denen Deutschland nur träumen kann. Das europäische Interesse wäre es, diese Wachstumsimpulse auszunutzen, anstatt sich vor ihnen abzuschotten. Kulturell steht ebenfalls viel auf dem Spiel, gerade mit Blick auf die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Derzeit gibt es eine sehr aktuelle Diskussion über Zuwanderung, Migration und Integration. Jedem ist klar, dass sich vor allem Deutschland allein aus demographischen Gründen einer erhöhten Öffnung für Zuwanderung nicht entziehen kann, und seine Integrationspolitik verbessern muss.


4. Die EU und die Türkei

Fakt ist aber auch, dass die Türkei nicht von der Landkarte verschwinden würde, wenn die Türkei nicht in die EU kommt – oder dass die deutschen Integrationsprobleme dadurch geringer würden. Wir können uns einen Umgang mit der Türkei nicht ‚wegdenken’, in dem wir einfach die Beitrittsperspektive aufgeben. Inzwischen haben die Verhandlungen ja bereits begonnen, aber es kursieren auch bereits Gerüchte über eine Suspendierung der Verhandlungen.

Ich möchte an diesem Punkt klarstellen: hier geht es weder um irgendein überstürztes Verfahrenn noch darum, bei der Türkei irgendwelche ‚Augen’ bzgl. der zu erfüllenden Kriterien zuzudrücken. Die Verhandlungen werden lang und schwer und zäh. Es gibt unzählige Probleme, die noch einer politischen Lösung bedürfen: die Kurdenfrage, Armenien, Zypern, um nur die schwierigsten zu nennen. Und die Türkei wird hier die europäischen Standards in Sachen Menschenrechte 100%-ig erfüllen müssen. Im Übrigen ist allein der Begriff ‚Verhandlungen’ irreführend. Die EU verhandelt nicht. Die EU hat einen klaren Katalog von Kriterien und Bedingungen, die erfüllt sein müssen.

Auf der anderen Seite aber ist die Aufnahme der Türkei in die EU vielleicht die wichtigste und entscheidendste außenpolitische Frage des 21. Jahrhunderts, denn es geht in letzter Konsequenz darum, Samuel Huntington’s Buch vom ‚Clash of Civilisations’ zu widerlegen. Die EU hat – heute vielleicht als einzigste politische Einheit – die Chance, eine kulturelle Brücke hinein in die muslimische Welt zu schlagen, und, auf der Basis von Demokratie, Menschenrechten, Rechtstaatlichkeit, ‚good governance’ und Marktwirtschaft zu demonstrieren, dass die EU eben kein ‚christlicher Club’ ist. Die Signalwirkung für die ganze Welt – von Brasilien bis Australien – wäre enorm. Und jeder, der sich, insbesondere nach den Anschlägen des 11. September, nicht darauf einlassen will, dass der Grundkonflikt des 21. Jahrhunderts jener zwischen dem ‚Westen’ und der ‚muslimischen’ Welt wird, sollte diese Entscheidung und die Verhandlungen der EU mit der Türkei daher mit großem Augenmerk verfolgen.


5. Die geo-strategische Komponente der EU

Es geht also – bei der Türkei wie bei den anderen Staaten östlich der EU - etwa den Balkanstaaten (die sogar in der Mitte der EU liegen!), der Ukraine, Georgien, oder, bedingt durch die jüngsten Ereignisse: Weißrussland – nicht um Altruismus, sondern es geht auch darum, was die EU sich selbst vergeben würde, wenn sie nicht eine aktive Nachbarschaftspolitik verfolgte, und diesen Ländern eine Heranführung an die EU ermöglichte. Sichere Grenzen, Prosperität, Marktwirtschaft und Demokratie in diesen Ländern sind in unserem Interesse. Durch diese Länder laufen die zentralen Pipelines für unsere Energieversorgung. Von diesen Ländern hängen unsere Energieversorgung- und unsere Energiesicherheit ab. Sie können zugleich ein neuer Markt werden, und die EU kann nur stärker werden und gewinnen, je mehr wir diese Länder auf die Regeln des Binnenmarktes verpflichten, anstatt sie fernzuhalten, Desinteresse zu zeigen und sie in letzter Konsequenz ausgrenzen. Die Erweiterungsdebatte mit Sprüchen wie ‚noch Bulgarien und Rumänien, und dann ist Schluss’ zu führen, ist darum kurzsichtig. Es lässt jedes strategische Denken über die Zukunft und die Notwendigkeiten des Europas von morgen vermissen. Wir definieren in der aktuellen Erweiterungsdebatte der EU viel zu sehr, was wir nicht wollen, aber nicht das, was wir wollen. Das hat natürlich etwas damit zu tun, dass der Begriff der Geo-Strategie, zumal in Deutschland, historisch belastet ist. Aber die Geschichte – und auch die Debatten – ändern sich.

Jedes Land, das wir auf unsere europäischen Regeln und Werte verpflichten, wäre de facto auch einen Zugewinn von Macht für die EU. Nun ist es politisch nicht sehr korrekt, mit Bezug auf die EU in Kriterien von Macht oder gar der Geo-Strategie zu denken. Aber ich halte auch das für einen Fehler. In der Politik geht es eben um Macht, und damit um die Erhaltung bzw. den Zugewinn von Gestaltungsspielräumen.

Als Fußnote und nur am Rande möchte ich darum nur - möglichst wertfrei – anmerken, dass ich es wissenschaftlich sehr interessant finde, dass es gerade im Moment eine steigende Anzahl von Literatur gibt, die die EU in Zusammenhang mit dem Begriff des ‚Empire’ thematisiert, und zwar überwiegend aus den USA: Jeremy Rifkin, Michael Ferguson, und neuerdings auch Professor Münkler von der Humboldt-Universität Berlin. Dies soll und muss nicht heißen, dass die EU zu einem ‚Empire’ werden soll. Aber es sollte uns vor Augen führen, dass die EU de facto zumindest partiell bereits als Einflussmacht perzipiert wird, und uns zu denken geben, wie wir in unserem eigenen Interesse konstruktiv damit umgehen.

Dabei geht es nicht um banale ‚Großmachtallüren’. Sondern es geht darum, eine Zukunft für Europa bzw. die EU zu zeichnen, die sich von herkömmlichen Begriffen für politisches Gestalten löst, auch z.B. von dem Begriff des Nationalen. Der berühmte französische Historiker und Soziologe, Ernest Renan, hat einmal gesagt: Was eine Nation ausmacht, sind nicht Territorium oder eine gemeinsame Geschichte, sondern der gemeinsame Blick auf die Zukunft.’ So definiert, ist Europa bereits eine Nation, denn es ist eine Schicksalsgemeinschaft, in der es jedem Teil nur dann gut geht, wenn es den anderen Teilen auch gut geht!


II. Identität

1. Die europäische Identität zwischen Realität und Ambitionen

Nun sind solche Gedanken schnell skizziert, und stoßen sich doch an der Realität. Während die meisten Bürger spontan der Aussage zustimmen würden, das kein Nationalstaat in Europa alleine mehr in den entscheidenden außenpolitischen Fragen des 21. Jahrhundert genügend Einflussmöglichkeiten hat, so haben doch die Franzosen und die Niederländer im vergangenen Jahr gegen die Europäische Verfassung gestimmt – und damit gegen ein Vertragswerk, das Europa auf dem Integrationsprozess, vor allem bezüglich auf die Möglichkeit, in der Welt ‚mit einer Stimme zu sprechen’, zumindest ein bisschen voran gebracht hätte.

Auch wenn die ‚exit-polls’ darstellen, dass die Franzosen nicht gegen ‚mehr Integration’, sondern eher gegen ‚mehr Erweiterung’ gestimmt haben, so lässt sich nicht leugnen, dass der Integrationsprozess zunächst in eine Sackgasse geraten ist, und der Weg aus dieser Sackgasse wird institutionell, rechtlich wie politisch schwierig sein.

Damit möchte ich zu der Frage der europäischen Identität kommen, der zweiten Hälfte des Vortragstitels, der mir viel schwerer fällt. Identität ist ein schwieriger Begriff, und gerade zum Thema ‚europäische Identität’ sind die Bibliotheken bereits reich gefüllt.

Die Tatsache, dass wir die Interessen der EU relativ leicht skizzieren, aber de facto nicht umsetzen können, uns also der politische Wille dazu fehlt, hat vielerlei Gründe, aber einer ist eben das Fehlen eines europäischen ‚Wir’-Gefühls, eines politischen Kollektivs oder auch eines europäischen ‚Demos’. Europäische Debatten werden nur ansatzweise transnational geführt, der politische Diskurs verläuft in weiten Zügen national, die Nation ist noch Referenzrahmen für das Tagesgeschehen, und die Orientierung an Zukunftsnotwendigkeiten war noch nie die Stärke von demokratischen Prozessen, die stark dem Rhythmus von Wahlen und damit Machterhalt unterliegen. Außerdem fehlt eine einheitliche Sprache, es fehlen europäische Medien und das Europäische Parlament ist nicht einflussreich genug, es ‚wählt’ keine ‚Regierung’.


2. Die institutionellen Ungenügsamkeiten – oder: Das Demokratiedefizit

Die Diskussion über Europa verläuft daher (noch) entlang der Trennlinie, für oder gegen Europa ‚an sich’ zu sein; nicht aber entlang der üblichen politischen Trennlinien, dass man etwa eine ‚liberale’ oder eine ‚konservative’ oder eine sozialdemokratische’ Politik für Europa wollte, einen bestimmten Inhalt oder eine bestimmte Orientierung also, wobei man aber nicht grundsätzlich das System selbst in Frage stellt. Europa hat diese Durchbrechung der nationalen Prärogativen in seinem institutionellen System noch nicht geschafft. Das ist gleichzeitig gut und schlecht. Gut, denn natürlich sind die Nationalstaaten noch souveräne Träger des Systems – die EU ist eine Staatenunion -, und die Stimme der Staaten artikuliert sich durch den Europäischen Rat. Gleichzeitig versteht sich die EU als ‚Bürgerunion’; die gewählten Vertreter der ‚EU-Bürger’ sitzen im Europäischen Parlament; gewählt aber immer noch entlang nationaler Grenzen.

Wir sollten uns ernsthaft fragen, ob dies, auch aus Gründen der europäischen Identitätsstiftung, auf lange Sicht sinnvoll ist. Oder ob man sich nicht eine europäische Bürgervertretung vorstellen könnte, wo das entscheidende Kriterium für mich als Wähler nicht ist, dass ‚mein’ Vertreter im EP ‚deutsch’ ist, sondern dass er denkt und vertritt, was ich politisch denke. Kurz gesagt: würde man die Wahlkreise z.B. in den Grenzregionen transnational zeichnen, müsste ich mir als ‚deutsche’ Wählerin vielleicht überlegen, ob ich meine Stimme eher einem ‚deutschen’ Konservativen gebe, nur weil er ‚deutsch’ ist, oder lieber einem niederländischen Sozialdemokraten, der nicht ‚deutsch’ wäre, mir aber vielleicht politisch näher steht.

Dies wäre ein Schritt auf dem Weg der Durchbrechung des Prinzips der nationalen Repräsentation im institutionellen Gefüge der EU. Im Übrigen nicht der einzig denkbare, denn die Zusammensetzung der Kommission ist ein mindestens ebenso wichtiges Thema: noch hat jedes Land der EU einen Kommissar. Wir wissen alle, dass dies sogar nach den Regeln des aktuell gültigen Vertrages von Nizza so nicht bleiben soll. Im Nizza-Vertrag ist bereits geregelt, dass ab 2009 die Kommission durch ein Rotationsverfahren zusammengesetzt werden soll, indem jeweils nur 2/3 der Staaten in der Kommission vertreten sind, währen 1/3 eine Kommission überspringt. Der Europäische Rat muss die Details dieser Regelung vor 2009 noch einstimmig beschließen, und dies wird keine einfache Entscheidung. Gleichzeitig können wir aber nicht eine Diskussion darüber führen, dass wir die Kompetenzen der EU zurückführen und begrenzen wollen, und gleichzeitig immer mehr Portefolios für Kommissare einführen (die dann etwas zu tun haben wollen). Und wir müssen berücksichtigen, dass sich die Balance zwischen kleinen und größeren Staaten in der EU in den letzten Jahren zugunsten der kleinen verschoben hat. Früher waren es 5 zu 10; jetzt sind es 6 große Staaten versus 19 kleine. Zum einen hat dies nicht immer gerechtfertigte ‚Führungsansprüche’ der Großen generiert. Zum anderen ist es tatsächlich ein Problem, dass gerade in der Kommission, die sich als Hüterin der Verträge und damit als europäisches Kolleg versteht, das ‚nationale’ das entscheidende Repräsentationskriterium sein soll.

Ich möchte dies an einem Beispiel erklären: es besteht kein Zweifel daran, dass die Balkanstaaten eine klare Beitrittsperspektive für die EU brauchen bzw. bereits haben. Dazu reicht ein Blick auf die Landkarte, denn der Balkan ist ein weißes Loch inmitten der EU. Es ist auch nicht so, dass die EU den weiteren Beitritt von ca. 22 Millionen Menschen über Zeit nicht auch bewerkstelligen könnte. Und doch ziehen wir gerade im Balkan wieder neue nationalstaatliche Grenzen, und begründen damit indirekt den Anspruch, dass diese ‚Staaten’ dann jeweils auch mit ‚eigenem’ Kommissar etc. in die EU aufgenommen werden können. Um es überspitzt zu sagen: Das derzeitige institutionelle System der EU befördert geradezu ‚ethnische Segregation’, obgleich die europäische Integration von der Idee her doch eigentlich ein ‚supranationales’ Projekt ist. Wir müssen für diese Probleme konkrete Antworten finden. Die Antwort mit Blick auf den Balkan sollte daher nicht lauten, dass die Balkanstaaten nicht in die EU können, sondern nur, dass sie nicht mit ca. sieben zusätzlichen Kommissaren in die EU können. In den institutionellen Fragen der EU liegen also Fragen der europäischen Identität durchaus verborgen.


3. Elemente bei der Suche nach der ‚europäischen Identität’

Ansonsten muss man konzedieren, dass die Identitätsfrage eine schwierige ist, und wohl auch nicht abschließen beantwortet werden kann. Darum möchte ich mich hier darauf beschränken, lediglich ein paar Elemente oder Puzzle-Teilchen in die Debatte zu bringen, wie man sich dieser Frage oder diesem Begriff nähern könnte, und dazu ein paar Thesen aufstellen:

1. Wer über europäische Identität nachdenkt, sollte zunächst konzedieren, dass Europa, die EU, ein Projekt der ‚Moderne’ ist, und damit nicht statisch. Ich glaube, die Zeit ist gekommen, um die so genannte ‚Finalitätsdebatte’ der EU – wo sind die Grenzen der EU? Wie weit soll die Integration gehen? – gleichsam ad acta zu legen. Europa/ die EU ist Projekt und Prozess zugleich, und jedenfalls nicht statisch. Es ist dies keine Schwäche, sondern vielleicht ihre größte Stärke, in einem Zeitalter, in dem flexibles Handeln wichtig sein wird. Der EU ist es damit gegeben, sich jeweils auf neue historische Entwicklungen einzustellen und anzupassen. Damit möchte ich z.B. sagen, dass wir die Frage, ob die Ukraine jemals in die EU kommt oder nicht, heute nicht mit letzter Verbindlichkeit beantworten können, noch sollten. Wir können es vielleicht 2016 entscheiden, auf der Grundlage von Fakten und Gegebenheiten, die dann real sein werden. Aber wir sollten uns heute auch nicht die Chance verbauen, dass es vielleicht 2016 von Vorteil für die EU sein könnte, die Ukraine aufzunehmen. Natürlich ist es schwer, diese Diskussionen in der Öffentlichkeit zu führen, denn zur Identitätsbestimmung gehört ja eben auch, sagen zu können, wer denn nicht dazu gehören soll, da sich das Eigene nur durch die Abgrenzung von einem anderen bestimmen lässt. Wenn wir die EU aber als nicht statisch begreifen könnten, würden wir einen ersten Schritt dazu tun, diese Debatte aufzulösen, bzw. uns jedenfalls nicht in der Starrheit einer ‚Finalitätsdebatte’ verrennen.

2. Identitätsstiftend für Europa könnte natürlich der universalistische Wertekanon sein, den wir mit Europa verbinden. In dieser Hinsicht ist Europa von Emmanuel Kant bis Jean Monnet keine neue Idee. Und nimmt man die so genannten ‚Kopenhagener Kriterien’ für eine EU-Mitgliedschaft (Demokratie, Menschenrechte, Marktwirtschaft), dann könnten sich potentiell viele Länder für eine Mitgliedschaft in der EU qualifizieren. Dann bleiben gerade einmal entweder die Geographie (die im Osten der EU aber gleichsam ausfransend ist…) oder aber eben die Religion (wie in der Türkei-Debatte!) als ausgrenzende Kriterien. Wenn man die Religion aber eben nicht als Kriterium zulassen möchte, dann wird es bei diesem Ansatz schwierig, wenn man die Schnittlinie zwischen einem ‚europäischen’ und einem ‚kosmopolitischen’ Ansatz – einem Ansatz, der letztlich auf eine Weltregierung hinauslaufen müsste – ziehen möchte. (Auch die Idee der ‚Weltregierung’ ist im Übrigen nicht neu und wurde zum Beispiel schon bei Raymond Aron thematisiert. Sie ist aber wieder sehr aktuell, wenn man jüngst erschienene Bücher wie ‚Free World’ von Timothy Garton Ash oder ‚The World is flat’ von Michael Friedman liest). Denn ein zentrales Problem bei der europäischen Identitätsdebatte scheint ja gerade zu sein, dass sich die Bürger zwischen den beiden parallelen Prozessen der ‚Europäisierung’ einerseits, und der ‚Globalisierung’ andererseits verlieren; zurecht, denn beide Prozesse sind ja auch kaum auseinander zu halten. Kann man denn sagen, ob ein Unternehmen in Deutschland in Schwierigkeiten ist, weil die Produkte aus Tschechien oder die aus China billiger sind, oder weil die Produktion in die Slowakei oder in die Ukraine verlagert wird? Kann man eben nicht. Europa bzw. europäische Identität könnte dann auch hier weniger als starrer Wertekanon angesehen werden, sondern eher als ein Art Maxime und ein Leitfaden für Handlungsweisen, der sich ausweiten lässt. Das mag man als Illusion oder als Utopie abtun. Fakt ist aber auch, dass Europa längst in der Welt außerhalb der Grenzen der EU als ‚Europa’, als ‚europäisch’ wahrgenommen wird. Für die anderen ist Europa schon da, und sowohl die Inder wie die Brasilianer und viele andere haben recht klare Vorstellungen davon, was sie mit ‚europäisch’ verbinden; und es ist im Wesentlichen jenes transnationale Projekt der ‚Moderne’, das einige Regionen der Erde (MERCOSUR, ASEAN) im Übrigen gerne kopieren würden.

3. Aber natürlich braucht Europa zur Identitätsfindung jenen Anderen. Und gerade in den letzten Jahren war die Debatte davon beherrscht, dass sich Europa als ‚Gegenmacht’ zu den USA etabliert und definiert. Es gab durchaus eine (fast geschlossene) europäische Öffentlichkeit, die gegen den Irak-Krieg und die Politik vom Präsident Bush gewesen ist. Das Problem der Exklusion versus Inklusion ist also ein schwieriges, und speziell in Bezug auf die USA werden wir die Frage zu klären haben, was im 21. Jahrhundert der ‚Westen’ sein soll, nachdem das Schisma des Kalten Krieges weggefallen ist, und der ‚externe Föderator’, nämlich die UdSSR, als gemeinsamer Feind nicht mehr existiert. Die Frage ist dabei, wie sehr Europa eine (Außen-)Politik definieren kann, die natürlich nicht gegen die USA gerichtet ist, die aber – zumindest partiell – zunehmend anders ausgerichtet sein möchte, bzw. wie die EU in Zukunft andere Methoden, Einschätzungen und Einstellungen als die USA in außenpolitischen Fragen artikulieren will. Die Frage – dies soll nur eine Fußnote sein - ob die EU dabei ernst genommen wird und werden kann, wird dabei entscheidend davon abhängen, ob die EU in letzter Konsequenz auch bereit sein will und wird, ihre Meinungen notfalls auch militärisch zu verteidigen und durchzusetzen, ob sie also als ‚Macht’ (und durchaus auch als militärische Macht!) ernst genommen werden will. Diese Frage möchte ich hier nicht weiter ausführen. Sie ist im Detail sehr komplex und mit vielen Einzelfragen der militärischen Fähigkeiten und der Beziehungen zwischen der NATO und der ESVP (Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik) behaftet. Grundsätzlich aber gilt es, bei dem Problem der Exklusion/ Inklusion mit Blick auf die EU die Frage zu beantworten, ob wir uns als Europäer – ähnlich dem Muster des 20. Jahrhunderts – auf eine neues Freund/ Fein-Schema einlassen wollen, und zwar diesmal eben jenes zwischen dem ‚Westen’ und dem ‚Islam’. Ich denke nicht, dass dies Ziel europäischer Politik sein sollte, und gerade deshalb, ich erwähnte es bereits, ist die Frage der Aufnahme der Türkei so wichtig. Die Frage sollte eher lauten, was Europa – und eine europäische Identität – dazu beitragen kann, den Islam in die Moderne zu integrieren.

4. Die EU, auch in ihrer Identitätsdiskussion, stellt sich für mich manchmal so dar wie in dem Roman von Franz Kafka, ‚Die Verwandlung’, in der Gregor Dick zum Käfer wird, und lange braucht, dies zu bemerken. Und sehr lange braucht, sich darauf einzustellen, dass er jetzt auf sechs oder acht anstatt auf zwei Beinen laufen muss, bevor er dann einsieht, dass, wenn er die Parameter seines Denkens ändert, er auch auf acht Beinen sehr gut, vielleicht sogar besser laufen kann. Ich erwähne dies, weil mir die europäische Identitätsdiskussion manchmal zu abstrakt vorkommt, denn zumindest gewisse Formen europäischer Identität sind ja längst da, sind fast zu ‚normal’ geworden, so normal, dass wir es schon gar nicht mehr wahrnehmen, allerdings, wie bereits erwähnt, sehr wohl die Staaten um die EU herum. Der europäische Integrationsprozess hat längst eine Art europäische ‚Gravität’ oder Schwerkraft erzeugt, der sich auch für alle Bürger im Alltag festmachen lässt: dazu gehört der Euro ebenso, wie das Studium im Ausland, der einfache Grenzübertritt mit dem Personalausweis, der Billigflug nach Riga für nur 29,- Euro und vieles andere mehr. Europa ist schon da!

5. Ein weiteres Problem, wenn man sich einer Definition einer ‚europäischen Identität’ nähern will, ist, dass augenblicklich zwei Prozesse parallel verlaufen zu scheinen, die nur schwer auseinander zu halten sind, und zwar einmal der Prozess der ‚Europäisierung’ und der Prozess der ‚Globalisierung’. Dies führt in einen Debattenstrang, indem ein Lager Europa/ die EU gerne als ‚Bollwerk’ gegen Liberalisierung und Flexibilisierung definieren möchte – wie man z.B. anhand der Diskussion über die Bolkestein-Richtlinie ablesen kann –, während auf der anderen Seite ein anderes Lager in Europa und durch die EU gerade die Möglichkeit sieht, sich auf den internationalen Märkten besser zu behaupten, und zwar genau dadurch, dass Europa nun auch seine Liberalisierung, die Flexibilisierung seiner Arbeitsmärkte und seine Reformen vorantreibt. Ich denke, dass diese Dichtonomie aufgehoben werden sollte. Es scheint völlig klar, dass Europa sich dem Prozess der Globalisierung stellen und sich auf die Konsequenzen einstellen muss. Dazu gehört die Erhöhung seiner Wettbewerbsfähig, wie dies augenblicklich z.B. durch die Lissabonner Agenda versucht wird. Als Fußnote sei mir hier allerdings erlaubt hinzuzufügen, dass die Lissabonner Agenda natürlich solange fruchtlos bleiben wird, die die Kommission darin eigentlich nichts zu sagen hat. Die so genannte ‚offene Methode der Koordinierung’, also nur ein Abgleich von nationalem ‚benchmarking’, führt hier nicht sehr viel weiter. Europa müsste also auch institutionell andere Wege finden, die Lissabonner Agenda wirklich zu einem schlagkräftigen Instrument zu machen. Aber die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit muss nicht heißen, dass Europa oder die Staaten der EU darum auf alle ihren sozialen oder auch bildungspolitischen Errungenschaften verzichten. Nur sollen wir uns fragen, ob nicht gerade hierin europäische Chancen liegen könnten, wie z.B. im Bereich Forschung und Entwicklung (R&D), wo sicherlich Synergieeffekte zu erzielen sein würden, wenn man z.B. Spitzenforschung europäisch und mit europäischen Mitteln betreiben würde. Für die Bildungspolitik gilt dies idem. Dazu müssten aber natürlich viele nationale Eitelkeiten überwunden werden. Denn klar scheint schon zu sein, dass auch die ökonomische Welt in Zukunft ‚multi-polar’ sein wird, soll heißen, dass sie sich in zunehmend regionale Blöcke zergliedern wird. Anhand der laufenden Doha-Runde im Rahmen der WTO z.B. wird dies recht schnell klar.

Dies, wie gesagt, können, wenn überhaupt, nur ein paar kleine Puzzle-Elemente sein, um sich dem Begriff der ‚europäischen Identität’ vorsichtig zu nähern.

Wo stehen wir also, abschließend, mit Europe?

Ich denke, zum einen sollten wir die Zeitschiene nicht aus den Augen verlieren. Wir sind jetzt ca. 16 Jahre nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion noch immer in einem Transformationsprozess, hinken gleichsam der Realität in unserer Wahrnehmung noch ein bisschen hinterher. Noch ist das Europa des 21. Jahrhunderts und das, was es sein sollte, bei vielen Bürgern noch nicht ‚angekommen’, es ist noch nicht konzeptualisiert. Aber es ist ja auch, wie bereits erwähnt, eher ein Prozess. Im Rückblick aber, wenn wir einmal versuchen, uns in das Jahr 2025 zu projizieren, wird man vielleicht – oder sogar hoffentlich – feststellen können, das Europa/ die EU in genau diesen Jahren, die uns jetzt bevorstehen, die Energie hatte, sich zu einigen, um verstärkt mit einer Stimme in der Welt zu sprechen, und dadurch seine eigenen Interessen besser wahrzunehmen und zu schützen. Wir sollten uns daher vor Augen führen, dass wir inmitten einer Umbruchphase sind; aber gleichzeitig das Ziel nicht aus den Augen verlieren – denn ich persönlich finde die gegenwärtig überall zu beobachtenden Re-Nationalisierungstendenzen eher bedenklich, bzw. anti-zyklisch zu der Notwendigkeit, viele Probleme global lösen zu müssen.

Aus den Augen verlieren aber sollten wir wahrscheinlich auch nicht, dass Europa / die EU nie fertig sein wird – und damit die ‚europäische Identität’ nie abschließend definiert sein wird. ‚Panta Rei’ – alles ist im Fluss – sagten schon die alten Griechen!

Ich vergleich dies gerne, um mit der griechischen Mythologie zu enden (denn die gehört ja kulturell ganz bestimmt zu Europa, ist eines ihrer Wesensmerkmale), mit dem Mythos von Sisyphus. Europe, die EU, ist der Stein, an dem wir alle rollen, und der vielleicht nie auf dem Berg wird liegen bleiben. Aber wer Albert Camus’ Essay über den Mythos von Sisyphus gelesen hat, der weiß, dass Sisyphus ein glücklicher Mann war! Was würden wir ohne Europa/ die EU machen, was würden wir machen, wenn wir nicht mehr an diesem schönen Projekt bauen könnten?

Der Stein, in diesem Fall die EU, ist gleichzeitig unser Interesse und unsere Identität!


Ulrike Guérot