Beitrag im Handelsblatt - So nah und doch so fern

Artikel im Handelsblatt vom 1.7.2008



Nach dem irischen Nein zum europäischen Reformvertrag: Die Europäische Union braucht einen Paradigmenwechsel - und zwar auf allen Gebieten. Denn es sind nicht die Bürger, sondern die nationalen Politker, die den Fortschritt verhindern. Ein Essay.


Das irische Nein zum europäischen Reformvertrag ist eine Tragödie. In diesem Fall von Europa und allen seinen Akteuren, die seit dem Maastrichter Vertrag von 1992 um die Anpassung ihrer Institutionen an die Erweiterung kämpfen.

Die Kerneuropa-Debatte ist so schal wie abgestandenes Bier, die Europäische Union ist längst - Stichwörter: Euro, Schengen - überaus differenziert, und in nichts ist die EU so clever wie darin, Ausnahmeregelungen zu finden für Länder, die ein unerwartetes Problem haben. Sollen die Iren doch sagen, was sie stört, die Rechtsexperten der Union finden mit Sicherheit eine Möglichkeit.

Geradezu zynisch ist der derzeitige Diskurs. Denn das beschwörende "Wir müssen die Iren ernst nehmen" steht im krassen Gegensatz zu der Tatsache, dass im Grunde niemand einen neuen Vertrag will. Die Sprachregelung, die spätestens seit dem letzten Europäischen Rat ausgegeben wurde, lautet: weiter ratifizieren, den Iren Zeit lassen (keiner will sie aus der Gemeinschaft werfen). Aber wenn es dann (hoffentlich) 26 zu 1 steht, wird sich schon eine Lösung finden lassen, und sei es, dass die Iren erneut abstimmen. Das haben sie ja schon mal getan. Natürlich ganz ohne Druck.

Ehrlicher wäre es zu sagen: Keine Verfassung der Welt, die amerikanische nicht und auch nicht die deutsche (Bayern hat bis heute das Grundgesetz nicht ratifiziert!) ist je mit Einstimmigkeit angenommen worden. Sogar die Charta der Vereinten Nationen kann mit Zweidrittelmehrheit geändert werden. Warum sollte es ausgerechnet Europa schaffen, seine Verfassung einstimmig zu verabschieden?

Diese Ehrlichkeit bringt das politische System Europas aber nicht auf. Das institutionelle System führt sich mithin ad absurdum. Ehrlichkeit könnte bedeuten, dass die Europäische Verfassung - nennen wir den Vertrag von Lissabon noch einmal so, denn er ist zu 95 Prozent identisch mit dem Reformvertrag - zum Beispiel mit einer doppelten (Staaten und Bevölkerung) Vierfünftelmehrheit verabschiedet wird. Das wäre eine sehr solide Mehrheit, und es gäbe doch kein irisches Problem. Irland wäre das Bayern der EU. Ein bisschen anders, aber mit Gewinn dabei. Das würde die EU im Übrigen nicht zum Bundesstaat machen, wie einige deutsche Staatsrechtler fürchten, sondern nur entwicklungsfähig.

Da man sich darauf aber nicht einstimmig einigen kann, beißt sich die Katze in den Schwanz. In der EU ist die Änderung des Änderungsverfahrens (Art. 48) das Kernproblem. Es verhindert die Fortentwicklung des Rechts, die Anpassung der EU an eine veränderte Umwelt und damit den Sprung der EU in das 21. Jahrhundert.

Absurd wird dies, wenn es, gerade weil es nicht weitergeht, nicht besser wird. Der Lissabonner Vertrag würde genau die Elemente einführen, die Europagegner immer wieder einklagen: mehr Mitspracherechte für die nationalen Parlamente, einen Volksentscheid, ausgedehnte Mitsprache des Europäischen Parlaments und sogar eine Austrittsklausel. Kein Vertrag hat die Bedenken der Europagegner so ernst genommen wie der Lissabonner Vertrag. Und gerade gegen den stimmen die Europagegner. Das ist gefährlich an der Grenze zur Schizophrenie!

Deshalb sollte auf diese vertragliche Kakofonie kein weiterer Satz mehr verschwendet werden. Denn die Tatsache, dass rechtliche Lösungen gefunden werden können, löst die politische Legitimitätskrise nicht. Die wenigsten Bürger sind gegen Europa, eigentlich sind die meisten irgendwie dafür - übrigens auch die Iren, wie das letzte Euro-Barometer beweist. Warum dies beim Urnengang nicht in Stimmen umgemünzt werden kann, das ist die eigentliche Frage.

Die Antwort liegt, so jüngst die EU-Kommission, im "wirtschaftlichen Schlechtfühlfaktor". Zwei Gruppen sind davon offensichtlich am stärksten betroffen, die Jugendlichen und die Arbeiter. Warum kann Europa die Jugend nicht mehr für sich gewinnen? Schon beim französischen Referendum haben die Altersgruppen 18 bis 25 und 26 bis 40 überproportional mit Nein gestimmt, in Irland waren es 65 Prozent. Warum erreicht die EU die Generation von Euro und Erasmus, Billigfliegern und Backpackern nicht? Mit welcher Geschichte könnte Europa die Jugend emotional an sich binden, wo Frieden und offene Grenzen zum Standard gehören?

Dies dürfte die schwierigste Aufgabe werden, denn die Wahrheit, die keiner aussprechen will, ist wahrscheinlich, dass man sich in Europa auf Zeiten wird einstellen müssen, in denen es den Kindern nicht notwendigerweise bessergeht als den Eltern. Und mit Frieden ist kein Staat mehr zu machen und kein Referendum mehr zu gewinnen.

Auch die Arbeiter haben mit 74 Prozent überproportional gegen Europa gestimmt. Sie fühlen sich als Globalisierungsverlierer zunehmend aus Europa ausgeschlossen. Denn kollektiver Nutzen heißt leider nicht automatisch, dass es individuell keine Verlierer gibt. Das aber wiederum liegt nicht an der EU, sondern daran, dass sich die Kräfteverhältnisse und die Demografie weltweit verschieben: Europa macht heute noch knapp sieben Prozent der Weltbevölkerung aus, 2050 voraussichtlich noch drei Prozent. Die "zweite Welt" fordert Verteilungsgerechtigkeit. Fakt ist, dass sich das Wohlstandsgefälle der Staaten heute einander angleicht, die Einkommensunterschiede in den einzelnen Ländern sich hingegen erhöhen. Das ist in China im Übrigen nicht anders als in Deutschland, und es ist zutiefst problematisch. Aber es ist nicht die Schuld der EU.

Die EU schafft keinen Arbeitsplatz und sie vernichtet auch keinen. Aber sie schafft den Ordnungsrahmen und einen großen Markt, in dem nationale Unternehmen sich behaupten und expandieren können. Deutschland hat überproportional von der Osterweiterung profitiert. Derweil hört man von Gregor Gysi bis Jürgen Habermas, dass die EU nicht so konstituiert sein darf, dass sie Alternativen zur vorherrschenden marktliberalen Wirtschaftspolitik ausschließt. Das klingt wie das SPD-Parteiprogramm vor Bad-Godesberg oder Mitterrands Versuch des "socialisme dans un seul pays". Denn jeder weiß, dass Öffnung - und nicht Abschottung - die Lösung ist, vor allem im Land des Exportweltmeisters Deutschland.

Das europäische Sozialmodell kann nicht mumifiziert, sondern nur durch europäische Ordnungspolitik verteidigt werden. Die EU ist nicht daran schuld, dass Indien und China auf den Weltmarkt drängen und damit zwei Milliarden Arbeitssuchende. Als Sündenbock ist die EU indes stets herzlich willkommen. Die "EU als Bollwerk"-Debatte läuft daher in die Irre, denn die EU ist genau das Gegenteil: Sie ist der Rahmen, in dem sich Europa an die Globalisierung anpassen kann, während die Nationalstaaten allzu oft schmerzliche Anpassungen verzögern.

Es ist deswegen an der Zeit, mit der irreführenden Debatte aufzuräumen, Europa müsse sozialer werden. Das ist zwar richtig, aber wenn man es will, könnte man es eben tun. Das ist keine Frage systemischer Alternativen, sondern schlichtweg eine Frage des politischen Willens.

Doch alle Nationalstaaten treiben gerade hier ein unehrliches Spiel: Jeder fordert das soziale Europa, aber immer wenn es darum geht, in der Sozial- oder Wirtschaftspolitik Kompetenzen zu verlagern, sind alle dagegen, auch in Deutschland. Nirgendwo kann und darf die EU weniger als in der Sozialpolitik, aber nirgendwo wird sie mehr für mangelnde Resultate abgestraft. Die EU hat es gar nicht in der Hand, Jobs zu schaffen oder sozialer zu werden. Und da, wo es um die Vereinheitlichung von Rahmengesetzen geht - z.B. in der Bildungspolitik zur Sicherung von Chancengleichheit - sind gerade in Deutschland die Bundesländer immer bemüht klarzustellen, wer die Kompetenz hat.

Einheitliche Rahmenbedingungen zu verhindern, aber mangelnde Resultate auf EU-Ebene zu beklagen ist unehrlich. Und nichts wäre schlimmer, als wenn die EU sich jetzt auch noch wie Nationalstaaten in eine Politik kurzfristiger Wahlgeschenke verstrickt (man denke nur an Sarkozys Pläne zur Subventionierung von Branchen, die besonders von der Erhöhung des Ölpreises betroffen sind), um zu dokumentieren, dass die EU konkret Gutes tut.

Die EU könnte indes eine Menge positiver Rahmenbedingungen für wirtschaftlichen Fortschritt und damit sozialen Ausgleich schaffen: ein europäisches Technologieinstitut (EIT) zur Bündelung von Forschung, Innovation und Entwicklung, die Förderung von schlagkräftigen Großunternehmen oder einen ambitionierten Bolognaprozess - vor allem aber eine bessere europäische Förderung derer, die nicht studieren. Doch immer, wenn dieses zur Debatte steht, will entweder niemand dafür bezahlen oder geht das Gerangel los um den Sitz des EIT oder der Streit bei EADS um Standorte in Toulouse oder Hamburg. Europa ist wie der Esel, der zwischen zwei Heuhaufen - dem nationalen und dem europäischen - verhungert.

Die neue Gründungsgeschichte der EU muss sich im 21. Jahrhundert an seiner Außenpolitik messen lassen. Vielleicht muss Europa dazu nicht bürgernäher, sondern bürgerferner werden? Vielleicht spräche nichts dagegen, auf Sonnenschutzrichtlinien, Gurkenkrümmungen, einen Teil der Agrarpolitik oder die Flora-und-Fauna-Richtlinie zu verzichten. Auf alles also, an dem sich die Bürger am meisten stoßen. Dafür könnte die EU sich vornehmlich darum kümmern, was sie am besten kann: einen internationalen Ordnungsrahmen herzustellen, in dem die Nationalstaaten besser gedeihen können. Jeder nach seiner Façon und ohne Überregulierung. Vielleicht sollte die EU ganz weit weg vom Bürger und nur dazu da sein, dass dieser sich weltweit gleichsam in einem europäischen Grundvertrauen in Sicherheit wiegen kann.

Dazu müsste freilich klargestellt werden, dass in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts eine gute, gemeinsame Außenpolitik die beste Innenpolitik und auch indirekte Sozialpolitik ist: Schutz vor Terror, ambitionierte Klimapolitik (und als Bonbon dafür z.B. Weltmarktführerschaft in umweltfreundlichen Technologien), Einfluss auf den Mittleren Osten, eine einheitliche Energiepolitik, ein einheitliches Auftreten gegenüber Russland, eine einheitlich gesteuerte Migration.

Dies sind die Themen der Zeit. Sie alle sind nur europäisch zu lösen, und sie alle nützen direkt dem Bürger. Denn daran hängen die Energiepreise und-sicherheit in Europa, die Attraktivität und Sicherheit unserer Städte, der Einfluss der EU auf Länder in der europäischen Nachbarschaft und damit auf Migrationsbewegungen oder der europäische Einfluss auf die internationale Rechtsetzung.

Ein in Euro denominiertes Fass Öl würde der EU weltweiten Einfluss auf Märkte und Mitsprache im Nahen Osten garantieren. Das ist freilich nicht immer unmittelbar in Jobs einzulösen. Aber das ist die Voraussetzung dafür, dass die Mitgliedstaaten den Sprung ins 21. Jahrhundert schaffen und sich ihre internationale Steuerungsfähigkeit bewahren können, die allein nationale Gestaltungsspielräume gewährleistet. Ein machtbewusstes Europa schafft einen globalen Ordnungsrahmen, wenn auch direkt keine Arbeitsplätze. Das zu sagen wäre ehrlich.

Die EU braucht also einen Paradigmenwechsel von ihrer bilanzpolitischen zu einer außenpolitischen Dimension, vor allem eine Diskussion darüber, dass die Erweiterung Teil der Lösung ist und nicht des Problems und dass die Kosten der Nichterweiterung höher als die Kosten der Erweiterung sind. Auf dem Balkan z.B. kostet der Krieg mehr als der Frieden. Kroatien wegen der Iren jetzt nicht aufzunehmen wäre die falsche Antwort.

Zu einem solchen Paradigmenwechsel würde auch eine Umschichtung des EU-Haushaltes gehören: weg von der Agrarpolitik, hin zu Friedens-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Dazu würde ein schlagkräftiger europäischer Auswärtiger Dienst gehören, den der Lissabonner Vertrag im Übrigen vorsieht.

Eine wirkliche gemeinsame, solidarische Energiepolitik, analog zur Montanunion von 1950, könnte auch zusammenschweißen. Ein Tor, wer denkt, Hauptsache in Deutschland brennen Öfen und Lichter. Dies ist in einem Binnenmarkt, geschweige denn innerhalb der Euro-Zone, nicht mehr darstellbar. Dazu würde ferner der Mut gehören, Einfluss in der Welt haben zu wollen und Verantwortung zu übernehmen.

Kann man diesen Paradigmenwechsel den Bürgern vermitteln? Wahrscheinlich. Erstens, weil man mit Ehrlichkeit jeden erreichen kann und zumindest die falschen Versprechungen aufhören würden. Und zweitens, weil 70 Prozent der europäischen Bürger für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sind - auch die Iren. Nur sind es oft nicht die Bürger, die diese nicht wollen oder gar verhindern, sondern die nationalen Politiker, die entweder nicht mutig genug sind oder nicht auf ihre eigenen Kompetenzen und Machtbereiche verzichten wollen, um jenes Europa zu schaffen, auf das alle stolz sein können. Der ehemalige irische Premierminister John Bruton hat einmal auf einer Konferenz in Washington gesagt: "Ohne Euro-Patriotismus geht es nicht." Diese Debatte brauchen wir jetzt.


Ulrike Guérot