Beitrag für IP - Deutschland, Frankreich und Europa: alte Musik oder neue Töne?


Es ist still geworden um die deutsch-französischen Beziehungen in den letzten Jahren, und fast möchte man fragen: gibt es sie noch? Die klassische deutsch-französische Dynamik, der Motor für Europa, der die EU vor allem institutionell stets vorangetrieben hat, er war nicht nur ‚en panne’, wie schon öfter einmal, nein, er hatte, ausgelöst durch das französische ‚Nein’ zu Europäischen Verfassung im vergangenen Jahr gleichsam einen Totalausfall.

Wird sich das nun ändern? Immerhin stehen einige Zeichen günstig, die vermuten lassen, dass man demnächst wieder mehr von Deutschland und Frankreich hören wird, und dem, was sie für Europa wollen. Das liegt zum einem schlicht am Kalender: am 1. Januar 2007 übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft, und eins der Ziele ist erklärter maßen, den Zug der Europäischen Verfassung wieder auf’s Gleis zu setzen. Zum zweiten finden bekanntlich in Frankreich im nächsten Jahr Präsidentschaftswahlen statt, und selbst wenn es zu früh ist, darüber zu spekulieren, wer sie gewinnt, so scheint doch zumindest sicher, das Jacques Chirac nicht mehr französischer Präsident sein wird. Dies nun dürfte der französischen Europapolitik in vielerlei Hinsicht neue Spielräume eröffnen: mit Blick auf die Verfassung ebenso wie mit Blick auf die EU-Osterweiterung oder die Budget-Fragen der EU. Und schließlich wird Frankreich dann selbst im zweiten Halbjahr 2008 die EU-Ratpräsidentschaft übernehmen, und kann sich daher überlegen, ob es weiterhin aus der Europadebatte wegtaucht, oder ob es aus dieser Präsidentschaft den ‚großen Wurf’ machen und gleichsam wie Phönix aus der Asche wieder die europapolitische Bühne betreten möchte. So lässt allein der Kalender erwarten, dass wieder Belebung in die deutsch-französischen Beziehungen kommt. Die Frage ist nur welche.

Ein Blick zurück

Es wäre falsch zu behaupten, dass die deutsch-französische Kooperation in den letzten Jahren nicht funktioniert hat, eher im Gegenteil. Nach dem Eklat von Nizza, wo sich Frankreich und Deutschland um die Stimmenverteilung im Rat heftig gestritten hatten, wurden 2001 die so genannten Blaesheim-Gespräche eingerichtet, in denen sich Frankreich und Deutschland regelmäßig auf höchster Ebene über europäische Zielvorstellungen austauschten. Es war eine Art ‚vertrauensbildende Maßnahme’, denn der Schock über Nizza saß auf beiden Seiten tief. Der Gipfel, der das institutionelle System auf die EU-Osterweitung hätte vorbereiten müssen, war im Desaster geendet. Die neue Blaesheim-Vertrautheit wirkte, hatte aber einen gleichsam gegenteiligen Effekt: in den letzten Jahren war es zunehmend die allzu große deutsch-französische Vertrautheit, die bei den anderen EU-Staaten Missfallen auslöste, und zu Recht. Ab 2001 häuften sich deutsch-französische ‚deals’, die sehr wohl im Interesse Deutschlands und Frankreichs, aber nicht notwendigerweise im Interesse der gesamten Union standen. Exemplarisch erwähnt sei hier der deutsch-französische Agrarkompromiss in Brüssel vom Oktober 2002, den die beiden im Hinterzimmer ausgehandelt hatten, ohne die europäischen Partner zu konsultieren. So wurde der Motor zur ‚Lokomotive ohne Anhänger’, die Einbeziehung gerade der kleinen Länder der EU wurde sträflich vernachlässigt. Gleichzeitig waren es gerade Deutschland und Frankreich, die systematisch die Regeln des Stabilitätspaktes brachen, anderen (osteuropäischen) EU-Länden aber z.B. ‚unfaire Steuerpolitik’ vorwarfen. Der Anspruch auf europäische ‚Führerschaft’, gepaart mit Regelbruch, das passte für viele der europäischen Partner nicht mehr zusammen. Der Bogen wurde überspannt, als Frankreich und Deutschland sich im Zuge der Irak-Krise gegen die USA stellten, und auch hier Gefolgschaft erwarteten, bzw. zumindest beanspruchten, dass sie im ‚Namen Europas’ sprächen. Der Preis dafür war die vielleicht tiefste Spaltung, die die EU je erlebt hatte. Hier geht es gar nicht darum zu argumentieren, dass die deutsch-französische Position zu Irak nicht in der Sache richtig war, noch zu übersehen, dass der Auslöser für alles eine unverantwortliche Nah-Ostpolitik der USA war. Aber Deutschland und Frankreich gegen die USA und einen Großteil der anderen EU-Partner, so konnte die EU nicht funktionieren. Dass in dieser Gemengelage kam noch deutsch-französische Energie zu bündeln war, das zeitlich fertig gestellte Verfassungsprojekt der EU erfolgreich abzuschließen, war vielleicht eine der tragischsten Konsequenzen. Nicht nur blieb der Verfassungstext als solcher hinter so mancher Erwartung zurück; als er in Rom 2004 von den Staats- und Regierungschefs feierlich verabschiedet wurde, war seine Bedeutung und Symbolik in den Wolken des europäischen Irak-Zerwürfnisses bereits verblasst und wirkte fade und schal, bevor er schließlich 2005 ausgerechnet an einem französischen ‚nein’ scheiterte!


Deutsch-französische Bruchstellen

Das deutsch-französische Verhältnis, so gut es auf der technischen und praktischen Ebene der Zusammenarbeit funktionieren mag, krankt zum einen daran, dass sich der klassische Bilateralismus in der EU überholt hat. Aber das ist nur das kleinere Problem.
Das viel größere ist, dass sich Deutschland und Frankreich in den letzen Jahren nicht bemüht haben, das große, politische Europa der Moderne zu gestalten, und zwar seit Jahren nicht! Zu den inzwischen fast mythischen ‚verpassten Gelegenheiten’ zählt das Ausbleiben einer französischen ‚Antwort’ auf das berühmte Schäuble-Lames-Papier von 1994, in dem Deutschland Frankreich einen Integrationssprung noch vor der damaligen ‚Norderweiterung’ der EU vorgeschlagen hatte. Doch auch die folgenden Gelegenheiten, der Vertrag von Amsterdam 1997 sowie vor allem das Duett von deutscher Ratspräsidentschaft 1999 und französischer Ratspräsidentschaft 2000; zwei Jahre, in denen man im ‚pas de deux’ die institutionellen sowie die finanziellen Voraussetzungen für die EU-Osterweiterung mutig hätte schaffen können, aber sie vergingen, wenn nicht im Eklat wie bei Nizza, so doch weitgehend ungenutzt. Auch Fischer’s Humboldt-Rede vom Mai 2000 blieb von französischer Seite ‚unbeantwortet’, Frankreich war schon wieder im Präsidentschaftswahlkampf. Und auch im Verfassungskonvent fehlten die großen deutsch-französischen Vorstöße, und als sie – zu spät, Ende 2002 – kamen, war Europa bereits mitten im Irak-Zerwürfnis und das deutsch-französischen Tandem hatte einen Großteil seiner Glaubwürdigkeit verspielt.

Für dieses Versagen gibt es einen doppelten Grund: einen deutschen und einen französischen. Der deutsche liegt im schleichenden Bruch Deutschlands mit verschiedenen seiner europapolitischen Traditionslinien über die letzten Jahre. Dazu zählen, verkürzt gesagt, drei Elemente: die ‚Entkommissionarisierung’ der deutschen Europapolitik; ihre ‚Nationalisierung’ und drittens der komplizierte (unter Kanzlerin Merkel wieder in der Reparatur befindliche!) Bruch mit der euro-atlantischen Dynamik. Selten war Deutschland Kommissions-feindlicher als unter Bundeskanzler Gerhard Schröder, gab es mehr ‚Commission-bashing’. Gleichzeitig hat Deutschland die alten Stürzpfeiler seiner Europapolitik, namentlich das Parlament, vernachlässigt, und sich stark auf den Rat konzentriert. Man könnte dies auch die ‚Französisierung’ der deutschen Europapolitik nennen, in dem Deutschland seine ‚nationalen’ Interessen in Europa immer stärker zum Ausdruck gebracht hat, sei es durch eine verschärfte Diskussion über seinen ‚Nettobeitrag’ zur EU, sei es, um einen Blick auf das größere Bild zu werfen, durch das Eintreten für einen deutschen Sitz im UN-Sicherheitsrat, der den europäischen Partnerstaaten dann als ‚eigentlich europäischer’ Sitz verkauft wurde. De facto hat Deutschland damit viel europapolitisches Porzellan zerschlagen. Denn die ‚Entkommissionarisierung’ bedeutete zugleich eine Entfremdung von den kleineren Mitgliedsstaaten, die traditionell sehr auf die supranationalen Strukturen der EU setzen. Und deutsche Alleingänge in Europa, zumal wenn, wie im Irak-Krieg, gegen die USA gerichtet, sie trafen den Lebensnerv der EU, den Deutschland war stets Schnittstelle dafür, das europäische Integration und transatlantische Kooperation zwei Seiten derselben Medaille sind.

Die französischen Gründe für die Dysfunktionalität des deutschen-französischen Tandems liegen in der französischen Verabschiedung aus den zwei gossen europapolitischen Kerndebatten der letzten Jahre: der Verfassung und der Osterweiterung. Frankreich hat sich in beiden Debatten über die letzten Jahre marginalisiert. Zum einen war die französische Position zur EU-Osterweiterung über Jahre sperrig, und das ist noch höflich formuliert. Zum anderen ist die Verfassung ausgerechnet in Frankreich gescheitert. Und mögen die Gründe für das französische ‚nein’ auch mannigfaltiger Natur gewesen sein und eigentlich herzlich wenig mit dem Verfassungsvertrag als solches zu tun gehabt haben: was anderes bringt dies zum Ausdruck, als das Frankreich einem das Gefühl vermittelt, das ihm dieses Europa, die erweiterte EU, sowie sie sich heute darstellt, nicht mehr passt? Europa, dass ist nicht mehr die Verlängerung französischer Ambitionen, dies ist die Crux. In keinem anderen Land ist der relative politische Gewichts- und Einflussverlust aller Länder in der EU nach der Osterweiterung deutlicher und schmerzlicher erfahren worden, und in Reaktion darauf hat sich Frankreich in die Schmollecke zurückgezogen. In den nächsten Monaten wird sich entscheiden, ob Deutschland durch die Dynamik, die es durch seine Ratspräsidentschaft entfalten kann, die Kraft hat, Frankreich aus dieser Schmollecke zu ziehen, und ob in dem Zeitfenster zwischen deutscher und französischer Ratspräsidentschaft der Aufbruch in das moderne, große Europa des 21. Jahrhunderts gelingt!


Auf dem Weg in das Europa der Moderne?

Denn Fakt ist, dass gerade Deutschland und Frankreich die vielleicht statischsten Debatten über die Zukunft der EU haben, bzw. bisher hatten, und zwar in scharfem Kontrast zu vielen andern Staaten wie etwa Italien oder Schweden oder Großbritannien. Die großen geo-strategischen Projekte für ein ausgreifendes, verantwortungsvolles Europa im 21. Jahrhundert, sie kamen in der letzten Zeit weder aus Berlin, noch aus Paris. Im Grunde geht es jetzt darum, die EU von der internen Re-Distribution zur Wahrnehmung ihrer außenpolitischen Verantwortung (und Interessen!) zu führen, was über Zeit auch eine Re-Allokation von Haushaltsmitteln verlangen wird. Die Zukunft des Balkans, die Frage des Türkei-Beitritts, die Europäische Nachbarschaftspolitik, Energiepolitik und ihre außenpolitische Dimension sowie die Beziehungen zu Russland, das sind die Themen von morgen, an denen der Erfolg der EU gemessen wird, und zu allen hat man vor allem von Frankreich noch wenig gehört. Denn der Diskurs über Europa in Deutschland und Frankreich verläuft im weiteren Sinne rückwärtsgerichtet in Semantik und Zielen, er ist angefüttert mit Bildern und Begriffen des Europas von gestern und dem Bedauern, dass alles nicht mehr so ist wie es war: Politische Union, klare Festlegung der Grenzen der EU, ‚Finalität’, Junktim zwischen Vertiefung und Erweiterung, alle diese Begriffe transportieren ein eher statisches Bild von der EU als runder, fester, gleicher Einheit, deren Integrationsziele, ebenso wie deren Grenzen man ein für alle Male festlegen könnte. Die EU ist indes mehr denn je (Modernisierungs-)Projekt und Prozess. Die Stärke der EU ist es gerade, auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts durch Wandel und Anpassung und Ausgreifen reagieren zu können. Aber aus Berlin und Paris fehlen die konstruktiven Vorschläge zur ‚variablen Geometrie’ oder abgestuften Integration, konstruktive Vorschläge zur Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) oder das energische Vorantreiben der Integration des Balkans in die EU. Ganz zu schweigen davon, dass sich Deutschland und Frankreich eher noch über die schwerpunktmäßige ‚Süd’- oder ‚Ost’-Ausrichtung der ENP uneins zu sein scheinen, anstatt ein rundes Konzept zu entwickeln. ‚Nach Bulgarien und Rumänien ist Schluss’, so z.B. ein geflügeltes Wort in der deutschen Debatte. Das deutsche und das französische Nachdenken über die ENP oder gar weitere Beitritte haben den ungesunden Geruch von Altruismus und des Ausgrenzens, anstatt das endlich die dringendsten innenpolitischen Problemfelder – Migration, Kriminalität, Energiesicherheit, neue Märkte – mit dem Schicksal der europäischen Nachbarstaaten verbunden wird. Europa kann nicht ohne oder gegen seine Nachbarn gemacht werden, und sowohl Deutschland und Frankreich bedürfen dringend einer Diskussion über die politischen, wirtschaftlichen und geo-strategischen (Folge-)Kosten der Nicht-Erweiterung, anstatt nur über die (vermeintlichen) Kosten der Osterweiterung zu lamentieren. Gerade Deutschland und Frankreich wird eine entscheidende Verantwortung zukommen, endlich plausible, dynamische und wirklich konkrete Strategien für den Süden und den Osten der EU zu entwickeln; ganz zu schweigen davon, dass Deutschland und Frankreich eine Hauptrolle dabei zukommen wird, die bereits begonnen Verhandlungen mit Kroatien (und die sich daraus ergebenden Perspektiven für den restlichen Balkan) und der Türkei dynamisch zu begleiten. Ines ist die Gefahr groß, dass politische Kräfte in beiden Staaten eher daran abreiten, genau dies zu verhindern!


Kein Kungeln!

Die deutsche Ratspräsidentschaft könnte zu einer veränderten, re-dynamisierten deutsch-französischen Partnerschaft und einem neuen, gemeinsam Blick nach vorne den Auftakt geben, und zwar in den zwei zentralen Themen, die die deutsche Ratspräsidentschaft beherrschen werden: einmal, auf dem Frühjahrsgipfel im März 2007, im Bereich der europäischen Energiepolitik, die vor dem Hintergrund einer Neudefinition der europäischen Beziehungen zu Russland gesehen werden muss; und zum anderen mit Blick auf die Europäische Verfassung. Und bei beiden Themen werden Deutschland und Frankreich dahingehend beäugt werden, ob sie wieder ‚kungeln’, oder ob sie sich und ihre Positionen europäisieren. Der Platz reicht an dieser Stelle nicht, um im Detail auf die Energie- und Russlandpolitik einzugehen. Doch ist im politischen ‚chat’ in Berlin und vor allem in den anderen Hauptstädten zu vernehmen, dass es, grob gesagt, zentral darum gehen wird, ob Deutschland mit Blick auf Russland eine Art ‚Russia first’-Politik verfolgt, mithin ob es versuchen wird, seine ‚besonderen’ Beziehungen zu Russland, sei es die besonders hohe Energieabhängigkeit, die große Industrieverflechtung, u.a. durch den Bau der Ostsee-Pipeline oder auch die für Deutschland besonders starken Bankeninteressen für sich zu kapitalisieren – dieses wird von Polen über das Baltikum bis hin zu Großbritannien und Skandinavien befürchtet; oder ob sich Deutschland auf das einlässt, was man eine wirkliche ‚Europäisierung’ der Russlandpolitik der EU nennen könnte – so ähnlich wie Deutschland damals beim Euro die stärkste Währung in den gemeinsamen Korb geworfen hat. Frankreich wird dabei zu entscheiden haben, ob es, wie in der Vergangenheit unter Chirac, eine Achse ‚Paris-Berlin-Moskau’ und damit deutsche Alleingänge unterstützen möchte, oder ob es sich für eine konsequente Europäisierung der Politik gegenüber Russland einsetzt.

Mindestens ebenso delikat und folgenschwer wird das deutsch-französische Vorgehen mit Blick auf die Verfassung sein, und war zunächst einmal unabhängig davon, wer in Frankreich im nächsten Mai gewählt wird. Nicolas Sarkozy’s Vorschläge eines ‚Mini-Traité’, durch den – ohne weiteres Referendum – essentielle Bestandteile des Vertrages (z.B. die Abschaffung der Rotation des Rates, der Europäische Außenminister, die Rechtspersönlichkeit der EU) ‚gerettet’ werden sollen, sind bekannt. Mme Royal war bisher zurückhaltender. Sie fordert eine grundsätzliche neue Debatte und einen neuen Konvent, dessen Abschlussdokument dann allen Staaten bzw. europäischen Bürgern am selben Staat zur Abstimmung unterbreitet werden soll. Zu welchen Schritten Frankreich auch immer sich durchringen wird, wichtig wird sein, wie es dies tut, vor allem in seiner Abstimmung mit Deutschland. Hier soll überhaupt nicht übersehen werden, dass die Situation mit Blick auf die Europäische Verfassung äußerst komplex, wenn nicht sogar verfahren ist, und dass es neben Frankreich noch einige andere ‚Problemstaaten’ gibt, z.B. Großbritannien oder auch Polen. Dennoch könnte eine Lösung in Frankreich der erste Schritt sein, den gordischen Knoten zu durchschlage. Allerdings nur, wenn dies nicht als deutsch-französischer ‚accord’ ohne die anderen inszeniert wird, und schon gar nicht im Rahmen einer ‚exklusiven’ deutsch-französischen Verständigung, die darauf zielen könnte – wie einige, .B. die Italiener oder auch die Spanier, die bereits ratifiziert haben, befürchten -, dass sich Deutschland und Frankreich pro forma auf einige minimale Punkte der Vertiefung einigen, um ein bisschen von der Verfassungssymbolik zu bewahren, aber gleichzeitig dabei das institutionelle System der EU de facto in einem Schwebezustand halten, so dass energische Schritte der europäischen Öffnung, z.B. in Richtung Balkan, weiterhin unmöglich bleiben. Die Sorge der anderen ist es, dabei auf der Strecke zu bleiben, denn es ist wie es ist: ohne oder gegen Frankreich und Deutschland geht nichts in der EU, aber das Risiko ist, dass die anderen nicht mehr folgen wollen!


Frankreichs Chance 2008

Die sechs Monate der deutschen Ratspräsidentschaft werden nicht reichen, mögliche konstruktive deutsch-französische Strategien zum Abschluss zu bringen, weder mit Blick auf eine Verabschiedung der Europäischen Verfassung, noch mit Blick auf die überfälligen geo-strategischen Konzepte im Bermuda-Dreieck aus Energiepolitik, Erweiterungspolitik und ENP sowie Russlandpolitik. Indes könnte die deutsche Ratspräsidentschaft durchaus eine Steilvorlage für Frankreich werden, vor allem in der Verfassungsfrage. Deutschland kann mögliche Lösungswege hier lediglich skizzieren. Aber Frankreich hat es zu einem großen Teil in der Hand, durch die Auflösung seines eigenen ‚nein’ eine frische Brise in die Verfassungsdiskussion zu bringen – oder auch nicht, denn die französische ‚deadlocking capacity’ ist, von der Politik des leeren Stuhls 1965 bis zum französischen ‚nein’ zur Verfassung 2005 bekanntermaßen groß. Entscheidend wird daher sein, mit welcher Energie Frankreich auf seine Ratspräsidentschaft im 2. Halbjahr 2008 zusteuern wird: zaudernd und zurückhaltend, oder mit der gleichen Verve, mit der damals François Mitterrand 1984 auf dem EU-Gipfel in Fontainebleau Europa aus der Krise und aus einer ebenfalls unüberwindlich geglaubten Eurosklerose geführt hat. Auch damals, 1982, stand die französische Europapolitik und die Stellung Frankreichs in Europa überhaupt auf der Kippe: wirtschaftliche Modernisierung durch die Politik des ‚franc fort’ und damit Verbleib im EWS und in Europa; oder Austritt aus dem EWS und eine Politik, die von einigen pikanterweise damals als ‚socialisme dans un seul pays’ bezeichnet worden ist. Frankreich hat sich damals für Europa, Öffnung und Modernisierung entschieden – und Europa damit eine zehnjährige Blütezeit beschert. 2008, wo neben der Frage der institutionellen Reform durch die Befassung mit der ‚review clause’ auch wieder die Finanzfragen der EU auf dem Tisch liegen werden, könnte wieder ein solches Durchbruchjahr werden, damit die EU dann nach 2009 mit einer neuen, verkleinerten Kommission, einem neuen Parlament, neuen Regeln und neuen Finanzen in eine dynamisierte europäische Dekade gehen kann: mit Frankreich und durch Frankreich! Honni soit qui mal y pense…..


Ulrike Guérot